Es waren einmal, so erzählt es ein altes Nussdorfer Weihnachtsmärchen, zwei Schwestern. Beide hatten ein Leben; die eine ein erfülltes, die andere eins, das erfüllter nicht sein konnte. Sie hatten einen Beruf; die eine einen, den sie mochte, die andere einen, den man schon mögen muss. Sie hatten einen Haushalt; die eine einen, in dem man nie etwas suchen musste, die andere einen, den man so bald nirgends findet. Sie hatten eine Familie; die eine eine, die aus Verwandten bestand, die andere eine aus Seelenverwandten, die irgendwann bei ihr eingezogen waren. Und sie hatten Weihnachten. Jedes Jahr.
 
Die Ältere begann lange vor dem Fest mit den Vorbereitungen. Sie schickte sich an, ihr Heim in ein Winterwunderland zu verwandeln. Sie studierte allerlei Druckwerke und entschied sich spätestens Anfang November, es heuer einmal  rustikal anzugehen. Wochenlang bastelte sie Strohsterne und Salzteigkörbchen für den Baum, bestickte Stoffservietten mit Christkindern und Ochsen, kaufte die Geschenke nach einer Liste, auf der sie sich das Jahr über die Wünsche jedes Einzelnen  aufgeschrieben hatte, und durchsuchte die Kochbücher nach dem idealen sechs­gängigen Menü mit Lachsauflauf, Wildbraten an Preiselbeeren und dänischer Mandelcreme. Sie schloss sich mit Zimtsternen und Lebkuchenhäuschen ein und brannte original schwedischen Glühwein im Keller. Die letzten Tage vor dem Ereignis stand sie fast ununterbrochen in der Küche, zauberte Torten und Kuchen und bereitete für Christ- und Stefanitag ein Buffet, von dem drei Dutzend hungrige Hirten satt geworden wären. Den Herd verließ sie nur, um das Haus zu putzen. Sie selber aß dabei keinen Bissen, um am 24. zehn Kilo leichter zu sein. Am Heiligen Abend zog sie sich das Twinset an, das ihr nur an diesem Tag passte, steckte sich ein Paar Perlen an die Ohren, setzte sich für eine Minute in ihrem gemütlichen Lehnsessel und wachte am 27. Dezember wieder auf. Die Familie hatte vor Jahren aufgehört, sie wecken zu wollen. Man packte sich zusammen und feierte bei ihrer Schwester.
 
Die Jüngere hatte sich lange vor dem Fest kein Beispiel an der Älteren genommen und sich entspannt. Am Nachmittag des Heiligen Abend behängt sie den Baum mit den bunten zusammengewürfelten Kugeln, die ihre Schwester ausgemistet hatte, und zum Dinner servierte sie das, was sie im Kühlschrank fand, als kreativen Eintopf. Die Geschenke, die in erster Linie ihr, in weiter den Beschenkten gefallen mussten, lagen nackt unterm Baum, die Christtagsbäckerei holte sie tags drauf aus der Konditorei ums Eck. Perfekt ist das nicht, hätte die Ältere gesagt, wenn sie einmal wach geblieben wäre. Macht nichts, hätte die Jüngere geantwortet, perfekt ist das, was bei dir daheim herumsteht. Wer hat schon was von diesem Perfektionismus?
(vgl. active beauty Magazin 12.2008)